Au … Aufschrei 16

„All You Can Sit!“

Auf den Flüge(l)n von Reihen-Ehr

Neschle fliegt. Oder vielmehr: er will fliegen. Wie viele andere. Doch es geht nicht! Trüb und fett liegt der Nebel über dem Flughafen-WC. Sorry, über dem Flughafen Weeze! Ryan Air nennt diesen fernen Flugplatz gern „Flughafen Dusseldorf-Nieder­rhein“ oder „Niederrhein (Weeze)“. Um die Verwirrung komplett zu machen, am Reiseziel sogar nur „Dusseldorf“. Wäre da nicht die Abkürzung NRN statt DUS, würden dort noch mehr fragen, wohin die Rückreise geht. Wenn sie entgegen ihren Erwartungen wirklich in „Dusseldorf“ landen, kann man das kaum Dusel nennen. Ärger, der sich vermeiden ließe! Und beim Rückflug ärgern sich einige schon darüber, dass sie überhaupt nachfragen müssen.

Doch so weit ist es noch nicht. Neschle wartet noch auf den Hinflug. Einige Flüge sind bereits ausgefallen. Ob diese Flüge als „unpünktlich“ gelten in der stolzen Statistik von Ryan Air? Was gar nicht stattfindet, kann nicht unpünktlich sein, macht die Statistik nicht kaputt. 88 Prozent aller Ryan Air Flüge sind pünktlich, verheißt die Werbung! Wartet man seit zwei Stunden auf seinen Abflug, sind für einen selbst 0 Prozent pünktlich.

Wenn der Flug am Ende ausfällt, kann sich Neschle sein Geld erstatten lassen. Das macht wenig Freude, denn er hat für Hin- und Rückflug jeweils nur einen Cent gezahlt. Dafür hat ihm die auf Abzocke getrimmte Heimseite von Ryan Air ganz locker für jeden Flug eine Reiserücktrittsversicherung von 14 Euro untergeschoben, so ganz einfach zwischen den Zusatzgebühren. 14 Euro für einen Cent! Das ist glatter Wucher. So doof kann man freiwillig gar nicht sein! Neschle hat es geschafft! Unfreiwillig! Er rechnet das seiner Eile bei der Buchung zu. Wie vielen aber mag es schon so gegangen sein? Die meisten aber sagen nichts, machen sich nicht die Mühe, diese Fehl-Buchung irgendwie wieder rückgängig zu machen.

Dann aber ist es so weit. Nach mehr als zwei Stunden klart der Nebel auf. Die Maschine ist bereit zum Einstieg. Da es keine reservierten Plätze gibt, drängeln die Leute nach vorn. Holländer, die „gefühlt“ in der Überzahl sind, mogeln mindestens so wie die Deutschen. Neschle und seine drei Mitflieger steckten anfangs in der Mitte, am Ende irgendwo zu Beginn des letzten Drittels. Dazwischen Mogler und Drängler, mit stillem Triumph und schleichendem Unbehagen.

Die Maschine hat 2 Eingänge. Die meisten Leute steuern gleich den vorderen Eingang an, nur wenige gehen den Weg bis zum hinteren. Da schafft es einen strategischen Vorteil für Neschle, dass sich sein Team für den letzten Eingang entscheidet. Dort ist die Schlange merklich kürzer. Aber warum eine Schlange?

Neschle stellt sich vor, dass die ersten im Flugzeug von beiden Eingängen bis zur Mitte vorgehen und den Flieger dann von dort aus „vollmachen“. Da müsste keiner warten, bis der andere Platz genommen hat.

Als er aber das Flugzeug von hinten betritt, sind die hinteren Reihen sämtlich besetzt. Jeder lässt sich auf den erstbesten Platz fallen und die Nachfolgenden warten, bis er sich und seine Bagage einsortiert hat. Dasselbe vorne, wo nur die vorderen Plätze besetzt sind und die Mitte völlig frei ist. So geht es Reihe für Reihe. Jede hält es hier offenbar für eine besondere Ehre, die nächstbeste Reihe zu wählen und andere warten zu lassen. Das also ist „Reihen-Ehr“ bei Ryan Air!

Neschle und sein Team versuchen, Vernunft in die Sache zu bringen. Doch vor ihnen steht eine Gruppe Holländer, die sich bei aller Enge über die Vielzahl der Plätze wundert, die ihr zu Wahl steht. Da kann man sich ja nicht entscheiden! Also bleiben sie im Gang und lassen den Blick über die leeren Sitzreihen in der Mitte schweifen, ohne Nachfolgenden die Chance zu bieten, einen dieser freien Plätze zu wählen. Es scheint, als seien sie bemüht, ihre Wahlfreiheit möglichst lange zu verteidigen und sich nicht zu früh der Enge der Sitzreihen zu opfern.

Dann wird auf Holländisch die verzweifelte Frage gestellt, wo man hier sitzen dürfe. Andreas aus Neschles Team ruft die Lösung und Losung[1]: „All you can sit!“. Dieser skurrile Satz hat unmittelbare Wirkung. Innerhalb von Sekunden sitzen alle Holländer und wir können zu Mitte durchgehen. Da finden wir genügend freie Reihen und stehen niemandem im Weg. Bei den anderen reicht der Verstand dafür offenbar nicht. Sie stehen weiter ihren Mitmenschen in Weg und füllen die Maschine von hinten und vorn. Das hat den Vorteil, dass bei uns in der Mitte später jeweils ein Sitz frei bleibt und wir trotz gut gefüllter Maschine Platz haben nach rechts und links. Manchmal macht sich Anstand sogar bezahlt. Aber das Erstaunlichste für uns:

Über das dem adipösen Amerikaner geläufige „All you can eat!“, meist mit „Breakfast all day!“ kombiniert, wurde mit  „All you can sit!“ ein wirkungsvoller Spruch für die Organisation der Sitzbelegung in Billigfliegern entwickelt. Darin erscheint die „freie Platzwahl“ als Zusatzleistung gegenüber den reservierten Plätzen der traditionellen Airlines. „All you can sit!“. Man kann nehmen, was und soviel man will, die Reihe frei wählen! Welch ein Privileg, welch eine Ehre! Reihen-Ehr[2] eben!

Beim Rückflug können wir noch etwas für die Pünktlichkeitsstatistik von Ryan Air tun. Wir fliegen mit einer Verspätung von 45 Minuten ab, sind aber 15 Minuten vor (!) der angekündigten Zeit am Zielort. Damit sind wir „überpünktlich“[3], wie man die Unpünktlichkeit vor der Zielzeit fälschlicherweise nennt. „Pünktlich“ ist nämlich „auf den Punkt“ und weder später noch früher. Doch die frühe Unpünktlichkeit gilt als „pünktlich“, nicht nur bei Ryan Air. Sie belastet die Statistik nicht: und 88 Prozent, das ist schon eine hohe Nummer im Luftverkehr!

Aber wie ist es möglich, dass man mit 45 Minuten Verspätung abfliegt und 15 Minuten vorher da ist. Zeitumstellung war nicht, die Zeitzone wurde nicht gewechselt. Die Lösung ist einfach: Für einen Flug von 2 Stunden Dauer hat Ryan Air ein Zeitfenster von 3 Stunden angegeben[4]. Wären wir pünktlich abgeflogen, hätten wir eine Stunde auf unsere Abholer warten müssen. Daher von uns ein Lob der Unpünktlichkeit oder dem, was Ryan Air für „Pünktlichkeit“ ausgibt. 88 Prozent. Egal! Denn egal ist 88!

Die Definition von Pünktlichkeit bei Ryan Air ist so innovativ wie unser „All you can sit!“. Das bieten wir Ryan Air als Werbespruch an! Gegen freie Freiflüge („All you can fly!“), mit „All you can sit!“ natürlich. Freie Reihenwahl eingeschlossen. Auf Eure Reihen Ehr! Und klaut den Spruch nicht einfach: Denn nur bei uns werden Sie geholfen! Blupp!


[1] Mit „Losung“ bezeichnet der Waidmann auch den Kot von Wild. Hier war es eher ein Code als ein Kot, obwohl bei näherer Betrachtung der Unterschied nicht mehr ganz so klar ist.

[2] Neschle fühlt sich erinnert an eine Kneipe, die er in seiner Jugend einmal besuchte. Sie hieß „Eier Franz“, angeblich benannt nach der „Air France“.

[3] Unter diesem Aspekt ist auch die Behauptung, Männer kämen häufig zu früh, zu revidieren. Sie kommen „überpünktlich“!

[4] Das sollte man mal für Vorlesungen vorschlagen. Man gibt 3 Stunden vor für eine zweistündige Vorlesung und hat dann eine Stunde Zeit, in der man die Vorlesung pünktlich beginnen und beenden kann. Es gibt eben immer Innovationen, sogar bei der Pünktlichkeit, von der viele meinen, die Deutschen hätten sie erfunden.

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